Manchmal, nur so zum Zeitvertreib, greife ich zu meinem Handy und zappe mich durch die Storys. Oft fühle ich mich danach schlechter als vorher.
Warum ist das so?
Es sind die Kleshas (=Leiden), die in mir wach werden.
- Zum Beispiel diese gutaussehende Frau, die ich gar nicht wirklich kenne, hat schon wieder ein neues Outfit. Natürlich fehlt mir das in meinem (wirklich gut gefüllten!) Kleiderschrank – das 3.Klesha Raga (=Habenwollen) breitet sich in mir aus.
- Eine Freundin zeigt in Bildern, wie sie nach einem entspannten Home-Office Tag, gesundes Essen auf den hübsch dekorierten Tisch zaubert. Ich empfinde Dvesha (=Abneigung-4.Klesha) weil ich mich vergleiche.
Was ist das doch für ein Unsinn. Wir alle leben doch in Fülle, jeder auf seine Art.
Das Anhaften an Vergänglichem, die Identifizierung mit dem, was ich nicht bin, sind Ursachen des Leidens, die Kleshas. Seit ich mir dessen bewusst bin und mein inneres Erleben beobachte und akzeptiere, gelingt es mir in vielen Situationen (noch nicht immer…) gelassener und objektiver zu bleiben.
Wir alle streben nach einem glücklichen und erfüllten Leben. Doch warum fällt es uns oft schwer, dauerhaft glücklich und angstfrei zu leben?
Im zweiten Kapitel des Yoga Sutra gibt uns Patanjali das Konzept der Kleshas an die Hand. Kleshas sind Eigenschaften, die den Geist trüben, die Ursachen allen Leidens. Sie steuern uns und unsere Handlungen und können als Widerstände oder Hindernisse betrachtet werden.
Patanjali, der vermutlich um 400 vorchristlicher Zeitrechnung gelebt hat. schreibt in seinem „Yogasutra”, das 195 Verse (=Sutras), resp. Lehrsätze, umfasst, Empfehlungen für den persönlichen Yogaweg. Mit seinen Versen erklärt Patanjali Art, Sinn und Zweck des Yoga, erfasste dabei jedoch genau die Wesensart des Menschen und seiner Probleme im damaligen Alltag. Interessanterweise sind seine Lehrsätze aus dem Yogasutra heute gesellschaftlich und individuell aktueller sind denn je.
Er erklärt wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, warum wir im Leben immer wieder in Schwierigkeiten geraten und wie wir diese Schwierigkeiten überwinden können.
Kleshas = Qual, Plage, Schmerz oder Leiden, bildet sich demnach aus unserer individuell erlebten Realität, unserem subjektiven Empfinden. Patanjali beschreibt insgesamt fünf Kleshas
1.Avidya = Nicht-Verstehen der wahren Natur unseres Seins (Sutra 2.5)
Nichtwissen, Unwissenheit (Unbewusstheit) bewirkt, dass wir Vergängliches für beständig halten. Alte Muster und Prägungen, die wir mit uns herumtragen, wie einen alten, gefüllten Rucksack, führen dazu, dass neutrales urteilen nicht möglich ist.
Die objektive Wahrnehmung ist verschleiert, wir halten Unwahres für wahr und halten dadurch leidvolle Spannungen in Körper und Geist fest.So haften wir an Vergänglichem an, leben in Unfreiheit und können kein freies Lebensglück erfahren.
2.Asmita: unser Ego, Ich-Gefühl und Ich-Identifikation (Sutra 2.6.)
Auf die Frage „Wer bist du?”, die gerne bei Partyplaudereien gestellt wird, antworten wir meist mit Angaben zu Namen, Beruf, Besitz, etc. Identifiziere ich mich mit etwas?
Bin ich vielleicht von den Medien beeinflusst?
Die Egohaftigkeit, die Ich-Zentrierung ist wahrlich eine leidige (Ver-) Spannung, die uns allerorts begegnet. Etwas, das jedem von uns innewohnt.Anhaftung an das unbewusste Ich führt zu falschem Verstehen und hindert uns an höherer Erkenntnis.Leiden entsteht, weil wir uns mit etwas identifizieren, was wir nicht sind
3.Raga: Habenwollen, Gier, Wunsch (Sutra 2.7)
Hast du mal etwas gewollt, was du nicht bekommen konntest?
Wenn wir uns von etwas angezogen fühlen, beherrscht es uns. Raga ist eine Spannung im Kopf, die letztlich dann zu Leid führt, wenn wir nicht mehr bekommen, was uns bisher Freude machte. Gier, Habenwollen, bzw. das Gefühl des Mangels oder des Behalten-wollens, das ist Raga. Raga entsteht zumeist durch angenehme Erfahrungen und Gefühle, die wir in Bezug auf ein Objekt, eine Situation oder einen Menschen gemacht haben und die wir behalten, bzw. wiederholen wollen. Alles, was wir maßlos begehren, bindet uns und verlangt stets nach weiterer Befriedigung.
4.Dvesha: Nicht Habenwollen, Abneigung (Sutra 2.8)
Wolltest du schon mal etwas nicht haben, aber wurdest damit konfrontiert?Dvesha ist Abneigung, Geringschätzung, Gleichgültigkeit oder sogar Hass und beruht auf schlechten Erfahrungen in unserer Vergangenheit, die wir zukünftig vermeiden wollen.
Manchmal kann Zorn sogar bewirken, dass man sich als jemand Besserer fühlt und dieses trügerische gute Gefühl hält an, solange man sich über andere ärgert. Ganz schön quer verspannt ist das, oder?
Nur weil wir uns vergleichen, fühlen wir uns schlecht. Auf diese Weise entsteht Missgunst und Neid unter Nachbarn oder Kollegen, sogar unter Freunden – man lehnt sie ab, weil sie harmonisch und glücklich sind. Es entsteht Streit, Krieg, Fremdenfeindlichkeit und Terror.
5.Abhinivesa: Unsicherheit, Angst vor dem Tod (Sutra 2.9)
Bist du dir deiner eigenen Vergänglichkeit bewusst geworden? Die Angst vor dem Tod ist eine intrinsische, sich selbst erhaltene Kraft, die auch in weisen Menschen wirksam ist.
Gibt es irgendetwas, das wir benennen können, was sich nicht verändert?Etwas, das uns alle plagt: die Vergänglichkeit allen Seins: von Alter, Krankheit und schließlich Tod sind wir alle nicht befreit, allen medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritten zum Trotz. Auch Yoga kann uns nicht vor unserem physischen Ende bewahren.
Das Leben erinnert uns an unsere Vergänglichkeit. Umso dankbarer können wir doch tagtäglich für unser Leben sein.
Wie können wir die Kleshas überwinden?
Patanjali empfiehlt, uns unsere Ängste, sowie die Urangst des körperlichen Todes bewusst zu machen, um die Kleshas zu überwinden. Die Grundursache des Leidens, die 5 Kleshas, liegen sehr tief. Wir können uns ihnen auf dem Wege der Konzentration und Meditation annähern.
Wenn der Kopf endlich nicht mehr verspannt ist, wenn das Gefäß des Körpers endlich leer von allen Kleshas ist, dann entsteht Freiraum für das Gefühl vollkommener Freiheit. In solchen Momenten tiefer Empfindung im Yogaunterricht oder Minuten vollkommener Gelassenheit während einer Meditation lösen sich wahrhaftig alle alltäglichen Sorgen auf.
„Schließlich wird ein Zustand erreicht, in dem sich das Handeln eines Menschen nicht mehr auf Kleshas gründet.” Patanjali, Sutra 4.30
So schließt sich der Kreis:
Wenn wir achtsam mit uns selbst und anderen sind, den Blick auch einmal kritisch vom Außen ins Innen richten, dann beginnen wir eine spannende Reise. Diese Reise führt uns unweigerlich zu uns selbst, sie lässt uns freier und glücklicher werden.
Obwohl das Yogasutra über 2000 Jahre alt ist, ist es heute von erstaunlicher Aktualität. In dieser schnelllebigen, digitalen Zeit ist es nicht immer leicht, bei sich zu bleiben, objektiv abzuwägen und sich nicht in Bedürfnisse und Abhängigkeiten zu verstricken.
Die heilende Wirkung von Meditation auf Körper und Geist wird seit Jahrtausenden erlebt und ist wissenschaftlich erwiesen. Yoga kann uns helfen, wieder mehr zu uns selbst zu finden und unser wahres Potenzial zu erkennen.
Love❤️
Anette