Neulich wollte ich meinen 16-jährigen Sohn von der Schule abholen.
Im Moment ist alles anders – so auch die täglichen Unterrichtszeiten.
Das heißt, wir dürfen uns in unserer Familie jeden Tag auf flexible Schulzeiten einstellen und das bedeutet das eine oder andere Mal, eine wirkliche organisatorische Herausforderung.
So auch am letzten Donnerstag.
Irgendwie hatte ich im Kopf, dass Ole mir sagte, er hätte um 14.00 Uhr Schluss. Also plante ich meine Aufgaben so, dass ich pünktlich um 13:50 Uhr vor der Schule stand. Da ich Nala (unsere 6 Monate alten Labrador-Hündin) mit im Auto hatte und es sehr warm war, lief ich mit ihr noch ein paar Runden über den Schulparkplatz (und jeder/jede der/die schon mal einen halbwüchsigen und extrem neugierigen Hund hatte, kann sich vorstellen, dass ALLES, einfach ALLES, was auf diesem Parkplatz passiert und was so auf dem Boden rumliegt, extrem interessant ist). Es wurde 14.00 Uhr – kein Ole. 14.10 Uhr – noch immer kein Ole. Langsam sank meine Laune und ich rief Ole an. Handy aus (na klar: Schule). 14.15 Uhr – noch immer kein Ole in Sicht.
Meine Laune erreichte einen Tiefpunkt und ich schickte Ole ein seeeehr vorwurfsvolle Sprachnachricht. Frei nach dem Motto „Das find ich jetzt echt unmöglich, warum du mich mit Nala jetzt hier rumstehen lässt; ich bin echt genervt und fahre jetzt nach Hause. Du musst sehen, wie du nach Hause kommst, ICH mach das nicht mit. Ich habe ja schließlich noch andere Sachen z tun…“ etc. Ich wartete weiter und überlegte mir, dass in der Schule ja evtl. etwas passiert sei und der Unterricht länger dauern könnte. Da es diese segensreiche „Im-Nachhinein-Löschfunktion“ von Nachrichten gibt, löschte ich meine Nachricht und setzte eine weitere, etwas weniger vorwurfsvolle Nachricht auf.
Aber immer noch mit dem Tenor „Du hast mir heute morgen eine falsche Zeit genannt und DU hast Schuld, dass jetzt alles so knapp wird.“ Ein bisschen freundlicher sagte ich ihm, dass ich jetzt nach Hause muss und er entweder mit jemand anderen fahren müsse oder er SEHR lange warten, bis ich ihn dann wieder abholen kann.
Auf dem Weg nach Hause, fiel mir ein, dass Ole eigentlich immer am Donnerstag um 15.00 Uhr Schluss hat und plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, dass er mir morgens etwas von 14.00 Uhr gesagt hatte. Ich löschte auch die letzte Nachricht, fuhr nach Hause, gab Nala ab (zum Glück war zufällig Sven gerade da) und fuhr wieder zurück, so dass ich pünktlich um 15.00 Uhr Ole mit einem fröhlichen „Hallo, schön dass du da bist!“ abholte.
Ole hatte – außer der Info über ein paar gelöschte Nachrichten- von dem ganzen Drama nichts mitbekommen.
Kommt dir sowas oder etwas Ähnliches bekannt vor?
In deinem Kopf braut sich ein riesiges Drama-Gewitter zusammen und Gedanken und Gefühle verselbständigen sich?
Was wäre gewesen, wenn meine Vorwürfe und meine schlechte Laune Ole in voller Wucht getroffen hätten?
Wie krass können meine Gefühle, meine Launen und meine Interpretationen von Umständen, Situationen, Menschen und das Miteinander beeinflussen.
Wie schnell kann ich anderen Menschen Schaden zufügen, wenn ich die Welt nur durch meine Brille sehe und deute?
Dass wir Menschen so ticken, ist keine neue Erscheinung. Das gab es schon immer. Patanjali – der Verfasser des „Yogasutras“- nennt unseren Geist „Citta“ (oder auch „das meinende Selbst“) und das, was diesen Geist unklar macht nennt er „Vrittis“ (Wellen, Fluktuationen). Im Yogasutra zeigt uns Patanjali Wege und Methoden, diese Wellen und Fluktuationen zu beruhigen, um klarer und ja – auch weniger dramatisch zu werden. Damit man die What´s App-Löschfunktion gar nicht erst gebrauchen muss;-)
Ein Weg dorthin ist der „achtgliedrige Pfad“. Diesen Pfad kannst du dir als ein Hilfsprogramm vorstellen, um die „Störfaktoren im Geist“ bewusster wahrzunehmen und zu überwinden. Er besteht aus einer Reihe konkreter, praktischer und bis heute noch sehr lebensnaher Vorgehens- und Verhaltensweisen. Wer diesen Pfad folgt, wird nach und nach die Ursachen von Leid erkennen und sie dann hoffentlich vermeiden und sich so im Laufe der Zeit selbst wieder näherzukommen und innerliche Freiheit zu gewinnen.
Die acht Stufen sind:
- Yamas – Umgang mit deiner Umwelt
- Niyamas – Umgang mit dir selbst
- Asana – Yoga-Übungen
- Pranayama – Atemübungen
- Pratyahara – Rückzug der Sinne
- Dharana – Konzentration
- Dhyana – Meditation
- Samadhi – Erleuchtung
In diesem und im nächsten Monat möchten wir euch gerne die ersten beiden Stufen – die Yamas und die Niyamas– vorstellen.
Die Yamas
In den Yamas geht es durchweg ums Handeln, um eine Anleitung für den Umgang mit deiner Umwelt. Gute Absichten allein reichen nicht aus, sie müssen sich in Taten spiegeln. Die fünf unterschiedlichen Prinzipen greifen ineinander und ergänzen einander, haben aber in der Gewichtung keine Hierarchie.
Die fünf Prinzipien der Yamas sind:
- Ahimsa – Gewaltlosigkeit
- Satya – Wahrhaftigkeit
- Asteya – Begierdelosigkeit
- Bramacharya – Enthaltsamkeit
- Aparigraha – Bescheidenheit
1. Ahimsa – Gewaltlosigkeit / Friedfertigkeit
„Wer in Rede, Gedanken und Tat fest in der Gewaltlosigkeit gründet, in dessen Gegenwart lassen andere von Feindseligkeit ab.”
Das erste Yama besagt, dass es notwendig ist, behutsam und überlegt mit allen lebendigen Wesen umzugehen. Das schließt auch uns selbst mit ein. Hierfür solltest du eine tiefgreifende Sensibilität entwickeln. Das bedeutet, Rücksichtnahme, Behutsamkeit, Mitgefühl, Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allem Lebendigen gegenüber zu praktizieren.
2. Satya – Wahrhaftigkeit
Satya ist die Wahrhaftigkeit, mit der du durchs Leben gehst und mit der du dich selbst und deine Mitmenschen behandelst. Die Wahrhaftigkeit kann auch als „nicht lügen” interpretiert werden. Wir alle wissen, dass im Alltag, vielleicht besonders im Berufsleben, unverblümte Ehrlichkeit nicht immer angebracht ist. Und vielleicht wird es immer mal Situationen geben, in denen wir Notlügen nicht vermeiden können – oder wollen. Satya empfiehlt dennoch wahrhaftig zu denken, zu handeln und zu sprechen. Diese Wahrhaftigkeit ist auch auf dich selbst bezogen: Sag nicht zu etwas Ja, wenn du eigentlich Nein meinst. Besonders diese Aufrichtigkeit dir selbst gegenüber wird dich klarer handeln lassen und hilft dir so, auch anderen Menschen mit derselben Aufrichtigkeit zu begegnen. Das macht als notwendig empfundene Notlügen irgendwann überflüssig.
3. Asteya – Begierdelosigkeit / Nicht-Stehlen
Asteya behandelt die kleinen oder größeren Diebstähle, die wir in unserem Leben begehen. Geliehene Bücher, die wir nie zurückgegeben haben, Schummeleien bei den Steuererklärungen oder auch Stunden bei der Arbeit, bei denen wir vielleicht nicht so produktiv sind. Wenn wir uns mit Asteya beschäftigen, fühlen wir uns schnell nicht mehr wohl mit unseren Flunkereien.
Asteya beinhaltet den Aspekt des Nicht-Stehlens, sich das Eigentum (auch geistiges) anderer nicht zu eigen zu machen. Aber auch im Hinblick auf unsere Weltlage, in der der westliche Luxus auf dem Rücken armer Länder ausgetragen wird oder die Rohstoffe auf dem Weltmarkt in den Herkunftsländern nur selten angemessen bezahlt werden.
Hinter diesen „Diebstählen” stecken Anhaftungen. So sagt Patanjali im Yoga Sutra „Wenn man im Nicht-Stehlen fest gegründet ist, kommt Reichtum von selbst.”
4. Brahmacharya – Enthaltsamkeit
Dieses vierte Yama ist das wohl vielfältigste Yama, zumindest, die Interpretationsbandbreite anbelangt. Gelegentlich liest man noch, dass es sich bei Brahmacharya um Enthaltsamkeit im Sinne von Keuschheit handeln soll. Also weniger Sex, um so mehr Kraft für den Yogaweg zu haben.
Ich glaube, dass diese Interpretation etwas in die Jahre gekommen ist und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Pantanjali so etwas gemeint haben könnte ;-).
Passender ist für mich die Auslegung, die besagt, Dinge in Maßen und Bedacht zu tun und mit den Ressourcen der Umwelt achtsam umzugehen.
Im Yoga-Sutra II, 38 heißt es sinngemäß:
“Handlung im Bewusstsein des Absoluten bringt Lebenskraft.”
Brahmacharya – mit Bedacht genießen
Brahmacharya ist also vielmehr die freundliche Empfehlung, das rechte Maß oder eine gute Mitte zwischen unseren natürlichen Bedürfnissen, den Wünschen und den Leidenschaften zu finden. Und diese Empfehlung sollte man beherzigen, denn sobald wir merken, dass wir einer oder mehreren Leidenschaften zu sehr fröhnen, kann dies wirklich zu Leid – nämlich zu einer Sucht – führen!
Dabei ist es tatsächlich egal, ob es sich um Sex, Alkohol, Zigaratten, Süßigkeit, Sport, Koffein, Medien … handelt – alles, was wir unkontrolliert, unbewusst und im Übermaß konsumieren und praktizieren, ist einfach auf Dauer ungesund.
Natürlich ist es erlaubt, auch mal „mit allen Sinnen“ zu genießen und sich etwas zu gönnen! Wie heißt es so schön: „Wer nicht genießt, wird ungenießlich!“
Wenn der Genuss aber ein Muss wird, dann ist es kein Genuss mehr.
5. Aparigraha – Bescheidenheit
Der fünfte Aspekt der Yamas empfiehlt, möglichst wenig Besitz anzuhäufen, da er die Lebensenergie bindet und Sorgen und Ängste aufbaut. Aparigraha ist das Freisein von Besitz und vom Drang, Dinge anzusammeln. Außerdem enthält es den Aspekt, keine Energie auf das Festhalten von Dingen zu verwenden – das Festhalten von Dingen, Ideologien, Gedanken, Beziehungen und Materiellem.
Während wir uns von benutzten Dingen vielleicht leichter verabschieden können, ist es oft schwer, sich von den eigenen Glaubenssätzen zu befreien. Wenn Ärger und Wut uns kontrollieren und unser Handeln beeinflussen, hilft es, zu vergeben und loszulassen, um in einen bescheidenen Gemütszustand zurückzukommen. Je feinsinniger wir werden, desto leichter fällt es uns, Verhaltensmuster zu ändern und uns von Automatismen zu lösen. Befreie dich von Erwartungen und Anhaftungen und nimm das an, was gerade ist. Mit dem Prinzip von Aparigraha übst du dich darin, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind, und feste Erwartungshaltungen aufzuweichen. Wenn wir das schaffen, können wir von nichts mehr enttäuscht werden.
Mit dem Horten von Dingen bindest du deinen Verstand und deine Energie. Dein Geist kann nicht mehr frei und leicht sein. Übe dich darin, nicht zu nehmen, sondern zu empfangen. Aparigraha beinhaltet so die vier vorangegangen Aspekte der Yamas. Findet Aparigraha seine Anwendung, verfeinern wir unser Handeln und erhöhen unsere Schwingungen.
Die Niyamas
Während die Yamas Verhaltensregeln für den Umgang mit dem Außen aufzeigen, verweisen die fünf Niyamas auf den Umgang mit dem Selbst.
1. Shauca = Reinheit
Shauca bedeutet Reinheit. Dieses Niyama bezieht sich nicht nur auf die das äußere Erscheinungsbild betreffende und die durch eine gesunde, ethisch einwandfreie Ernährungsweise bedingte innere Sauberkeit. Eine ebenso wichtige Komponente stellt die geistige Reinheit dar. Sie entsteht durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Gedanken, das Üben in Rücksichtnahme und eine regelmäßige Praxis.
2. Sam(n)tosha = Zufriedenheit
Das zweite Niyama fordert dazu auf, Zufriedenheit gegenüber dem zu entwickeln, was einem auf geistiger, körperlicher und materieller Ebene gegeben ist. Die persönlichen Lebensumstände anzunehmen, bedeutet jedoch keine Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber. Dankbarkeit und Bescheidenheit in Bezug auf die Gegenwart schließt das Streben nach Entwicklung und persönlichem Wachstum nicht aus.
3. Tapas = Selbstdisziplin
Tapas steht für Selbstdisziplin und Willenskraft. Es äußert sich als innere Hitze, welche sich nach außen hin als Verlangen, Ausdauer und Leidenschaft zeigt. Durch Selbstdisziplin und Willenskraft können sich Hindernisse im physischen, sowie im energetischen Körper lösen.
4. Svadhyaya = Selbststudium, Selbstreflexion
Das vierte Niyama bezieht sich auf das stetige Studieren und die Auseinandersetzung mit den Schriften. Dieses Gebot beinhaltet auch das Reflektieren eigener Grenzen und Möglichkeiten.
5. IshvaraPranidhana = Vertrauen an etwas Höherem
IshvaraPranidhana ist die Hingabe an etwas Größeres, was gleichzeitig die Anerkennung eigener Grenzen voraussetzt. Vertrauen in diese höhere Kraft zu setzen und sich von dieser leiten und tragen zu lassen, ist dabei von großer Bedeutung.
Wir freuen uns unglaublich, euch Yoga in allen seinen Facetten nun wieder nah und persönlich in unseren Yogastunden weitergeben zu können!
Denn Yoga macht frei, glücklich und verbindet!
Love💕
Katharina