Ist es bei dir auch so? Ich habe Yoga als Körperübungs-Praxis kennengelernt. So oft habe ich gehört und gesehen, wie fit Yogis sind, stark und flexibel gleichzeitig. Ich wollte auch so beweglich und kräftig werden.
Schon nach der ersten Stunde habe ich mich so richtig gut gefühlt, irgendwie anders als nach dem Sport, den ich sonst so mache, habe dem aber keine weitere Beachtung geschenkt.
Das erste Mal habe ich die Veränderung in mir bewusst wahrgenommen, als ich direkt nach einer Yogastunde einkaufen gefahren bin. Vielleicht kennst du das auch? Du willst nur schnell noch etwas besorgen und dann nach Hause, die Stunde nachwirken lassen. Es beginnt damit, dass der Parkplatz voll ist, manche Autos stehen mit so viel Abstand voneinander entfernt, dass eigentlich noch ein Auto dazwischen gepasst hätte. Endlich findest du einen Platz, ziemlich weit entfernt vom Eingang. Es regnet. Kein Schirm dabei. Also im Laufschritt ins Geschäft. Nachdem du deine Ware zusammengesucht hast, gehst du zur Kasse. 3 Kassen sind geöffnet, du stellst dich an der kürzesten Schlange an. Was passiert? Du hast natürlich die Kasse erwischt, bei der es am langsamsten voran geht. Die Kassenrolle ist leer, die ältere Dame vor dir zählt ihr Kleingeld, um zu bezahlen, die Kassiererin zieht die Ware im Zeitlupentempo über das Band. Normalerweise (früher, bevor ich Yoga praktizierte) hätte mich das total nervös und gereizt gemacht. Anstatt mich zu ärgern habe ich das Geschehen beobachtet, sogar der Kassiererin noch ein paar freundliche Worte gesagt und bin mit einem Lächeln zum Auto gegangen.
Rückblickend würde ich sagen: das war Yoga von der Matte in den Alltag übertragen. Wie ferngesteuert hatte ich mich entschieden, anzunehmen was ist, mich nicht zu ärgern, stattdessen der Kassiererin ein nettes Gespräch anzubieten. Erfahrungen wie diese sind für mich die beste Bestätigung, dass sich all die Zeit im Yogastudio nicht bloß positiv auf den Körper auswirkt.
Warum nun ist das so? Was ist eigentlich Yoga?
„Der Weg des Yoga ist einzigartig. Yoga ist einzig und alleine eine Erfahrung, und die muss man erleben, um sie zu kennen.“ *Patanjali
Patanjali, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Yoga, hat uns mit seinem Yoga Sutra einen interessanten Wegweiser geliefert.
Sutra bedeutet übersetzt Faden – ein praktischer Leitfaden, der aus 195 Sanskrit Versen besteht und so als eine Anleitung für die Yoga-Praxis verwendet werden kann auf dem Weg zur inneren Freiheit (Erleuchtung)
Die einzelnen Verse sind kurz und kompakt und lassen viel Spielraum für Interpretationen.
Im 2. +3. Kapitel beschreibt Patanjali die acht Glieder (Ashtangas) des Yoga, im Deutschen auch Yoga der acht Stufen, der Weg zu Harmonie, Vollkommenheit, innerer Freiheit oder auch Erleuchtung genannt. Der Interpretation in der westlichen Welt sind keine Grenzen gesetzt. Der Inhalt liest sich für jeden anders – trifft aber trotzdem immer irgendwie zu und kann zu einer ganz neuen Sicht auf das Selbst führen.
Der achtgliedrige Pfad auf einen Blick:
1. Yamas – der Umgang mit der Umwelt
2. Niyamas – der Umgang mit sich selbst
3. Asanas – der Umgang mit dem Körper/
4. Pranayama – der Umgang mit dem Atem/ Atemübungen
5. Pratyahara – der Umgang mit den Sinnen/ Rückzug der Sinne
6. Dharana – Konzentration
7. Dhyana – Meditation
8. Samadhi – das Höchste: die innere Freiheit/Erleuchtung
Das spannende daran ist, dass diese Schriften ziemlich alt sind (man vermutet so an die 2000 Jahre) und dabei trotzdem so unglaublich zeitlos. Die 8 Übungsglieder bieten auch im 21. Jahrhundert eine praktische Anleitung, wie man den Zustand von Yoga erreichen kann.
„Yoga citta vrtti nirodhah“ = Yoga ist der Zustand, in dem der Geist zur Ruhe kommt. *Patanjali
Im Juni und Juli habt ihr bei uns schon einiges über die ersten beiden Stufen, die Yamas und Niyamas erfahren. Sie sind die ersten beiden Stufen und eigentlich erst der Anfang deines Yogaweges. Lies gerne hier nochmal nach:
• Asanas sind die Körperübungen als Vorbereitung zur „richtigen Hinsetzung“ im Meditationssitz. Asanas wird heute allgemein als Yoga verstanden und ist die Stufe, die in Europa am bekanntesten ist und die meisten Menschen mit Yoga verbinden.
• Pranayama ist der Atem, im Yoga aber auch das Lenken von Prana, der Lebensenergie. Du kannst es selbst ausprobieren:
Nimm ein paar kurze flache Atemzüge und spüre, wie das Deine Stimmung beeinflusst. Dann nimm einige tiefe Atemzüge und beobachte wieder Deinen Geist. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit spürst und Ruhe und Gelassenheit, wenn Du tief und langsamer atmest und mehr Unruhe, wenn Du kurz und flach atmest!
Schon dieses einfache Experiment zeigt Dir, wie wichtig die Atmung ist, um mehr Ruhe und Lebensglück zu erfahren!
Im Yoga betonen wir die langsame gleichmäßige Atmung. Es gibt auch ganz spezielle Atemtechniken, aber schon die tiefe Bauchatmung bringt den Geist zur Ruhe.
Auch über Pranayama gibt es bereits einen Text auf unserer Website:
Monatsinspiration September: Pranayama – Atmung & Yoga (yogaschule-flensburg.de)
• Pratyahara bedeutet ganz grob übersetzt „Rückzug der Sinne“ oder ein sich Zurücknehmen aus all dem, was so um uns herum ist, wieder mehr im Innern und in unserer Ruhe ankommen. Wir konzentrieren uns auf unserer Matte auf uns selber, z. Bsp. auf die Atmung oder ein Mantra und sind mit den Gedanken nicht mehr im Außen, beim Job oder beim nächsten Einkauf.
Durch die Entscheidung, die ersten 5 Stufen oder Glieder des Yogaweges zu gehen, ebnest du den Pfad für die letzten 3 Stufen. Sie folgen als logische Schlussfolgerung.
Diese 3 Stufen nennt Patanjali zusammenfassend Samyama. Dazu gehört
• Dharana: Konzentration oder die anhaltende Ausrichtung des Geistesund die Steigerung davon:
• Dhyana: die Meditation.
• Samadhi: das Ziel des Yogaweges, ist die aus den beiden vorangehenden Gliedern resultierende vollkommene Erkenntnis, die innere Freiheit bringt und häufig auch als Erleuchtung beschrieben wird.
Yoga ist also viel mehr als nur Asanas zu üben bis sie perfekt aussehen. Wenn wir dem Pfad achtsam folgen und Atem, Geist und Sinne mit in unsere Praxis einbeziehen, erhalten wir einen ganzheitlichen Übungsweg. Das Erreichen von absoluter Freiheit und Erleuchtung mag ein ganz schön hoch gestecktes Ziel sein, in jedem Fall lernen wir unterwegs nach und nach eine Menge über uns selbst.
Somit gilt es zu verstehen, dass der Weg das Ziel ist. Alles andere kommt zu dir, wenn die Zeit dafür reif ist.
Vielleicht schleicht sich ja auch bei dir Schritt für Schritt die Veränderung von der Matte ins tägliche Leben. Wir freuen uns darauf, dich dabei begleiten zu dürfen.
Namasté
Anette